Bischof Dr. Rudolf Graber
Die Jahrzehnte, die wir durchleben, werden in die Geschichte eingehen unter der Bezeichnung "Wiederentdeckung Europas". Unser Erdteil, der einstmals eine Einheit bildete, aber vor allem durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts auseinanderfiel, ist im Begriff, sich wieder zusammenzufinden. Es sind vorwiegend wirtschaftliche und politische Gründe, die auf die Einigung Europas hinarbeiten. Indessen, ein solches Traggestühl ist auf die Dauer zu schwach. Die Europa-Idee braucht ein geistiges Fundament. Die Kirche hat nie aufgehört, dies zu betonen. Es war Pius XII., der sich unablässig um die Einigung Europas bemühte. In seiner Rundfunkansprache vom 24. Dezember 1941 forderte er, dass man nach Beendigung des Krieges alles daran setzen müsse, um "ein neues Europa und eine neue Welt aufzubauen."
Schon in seinem ersten Rundschreiben "Summi Pontificatus" vom 20. Oktober 1939 kommt er auf den Zusammenhang von Europa und dem Heiligen Stuhl zu sprechen und sagt: "Vor Zeiten hat die Lehre Christi Europa den geistigen Zusammenhang gegeben, und Europa, erzogen und veredelt durch das Kreuz, hat einen solchen Aufschwung genommen, dass es Erzieher anderer Völker und anderer Erdteile werden konnte."
Im übrigen hat schon Papst Leo XIII. in seinem Rundschreiben "Praeclara gratulationis" vom 20. Juni 1894 so tiefgreifend und eindringlich über die Sendung des christlichen Europa gesprochen, dass man diesen Text unbedingt in einem christlichen europäischen Lesebuch verwenden müsste.
Wir können hier leider nicht der Frage nachgehen, wer alles zu den Baumeistern eines christlichen Europas gehört. Wir beschränken uns heute auf den hl. Benedikt, den Papst Paul VI. am 24. Oktober 1964 zum Patron Europas erklärte, indem er Folgendes sagte: "Er, Benedikt, der Bote des Friedens, Schmied der Eintracht, Lehrmeister der Zivilisation, allen anderen voran Herold der Religion Christi und der Begründer des klösterlichen Lebens im Okzident, möge die Entwicklung der europäischen Geschicke leiten und durch seine Fürsprache einen nicht abreissenden Fortschritt erlangen, er, der einst mit dem Lichte der christlichen Kultur die Finsternis zurückgedrängt und die höchste Gabe des Friedens zum Leuchten gebracht hat."
Im gleichen Jahr hat der Papst in einem Gebet für Europa alle Ansätze "zur brüderlichen Einheit und Zusammenarbeit" ermuntert, zugleich aber gewarnt vor "inneren Zwistigkeiten, vor Prestigedenken und kleinlicher Rivalität" und in diesem Zusammenhang weder auf den hl. Benedikt Bezug genommen, der mit seinem "ora et labora" dieses Europa geschaffen hat.
Nicht weniger gilt dies von einer Person, die neben Christus den höchsten Rang in der Heilsgeschichte einnimmt, von Maria. Sie, die israelitische Königstochter, ist mit dem Abendland aufs höchste verbunden, weil nach einem Historiker gerade "das Abendland von allen Großräumen der Weltgeschichte (bis zur Gegenwart) der einzige Raum ist, in dem die Inkarnation, die Menschwerdung Christi, geschichtsbildend geworden ist."
Im liturgischen Kalender konnte ich allerdings nur ein einziges örtliches Fest "Maria und Europa" feststellen, das seit 1876 am 30. Mai in Gibraltar gefeiert wird, vermutlich, weil man dort sozusagen die Grenze unseres Kontinents der Gottesmutter unterstellen wollte.
Viel zu wenig bekannt ist auch die Europa-Madonna. Vor 20 Jahren schon, lange bevor der Europagedanke Menschen und Völker unseres Erdteils erfasste, wurde im Herzen Europas auf dem Berge Serenissima in Norditalien, dort, wo die französische, die deutschsprechende Welt und Italien zusammenstoßen, in 2000 Meter Höhe die mächtige, 20 Meter hohe, ganz vergoldete Statue "Nostra signora d'Europa, unsere Liebe Frau und Herrin Europas" errichtet. Dieser neue europäische Wallfahrtsort fand die vollste Zustimmung von Papst Pius XII. Die in den Jahren 1956 bis 1958 errichtete Statue wurde am 12. September 1958 von dem Mailänder Erzbischof Montini, dem verstorbenen Papst Paul M., feierlich eingeweiht. Der Platz ist hervorragend gewählt. In einer grandiosen Bergwelt, an einer Grenzscheide oder besser Nahtstelle Europas, von der die Wasser in den Rhein, in die Donau und in den Po, in die Nordsee, in das Schwarze Meer und in das Mittelmeer hinunterfließen, will Maria nach allen Seiten Europas hin ihren mütterlichen Gnadensegen ausströmen lassen.
Am 31. Mai 1964, dem damaligen Fest Maria Königin, habe ich dort anlässlich einer Wallfahrt europäischer Politiker das heilige Opfer gefeiert und dabei zu einer Gebetsaktion für die Einheit Europas und den Frieden der Welt aufgerufen. Ich habe eine marianische europäische Internationale gefordert, der auch die Länder hinter dem Eisernen Vorhang einbeziehen müsste, auch jenes Russland, von dem Dostojewski sagte, dass "von den Gebeten der Demütigen und nach Einsamkeit und Stille sich Sehnenden die Rettung Russlands ausgehen wird."
Wenn heute nun das Thema "Europa" in allen Varianten aufgegriffen und mit allen möglichen Dingen in Beziehung gesetzt wird, so ist es angebracht, gerade auf einem Katholikentag auch über das Thema "Maria und Europa" zu sprechen.
Wenn wir von den vorhin zitierten Worten ausgehen, dass die Menschwerdung Christi gerade in unserem Raum geschichtsbildend geworden ist, dann ist damit auch die Rolle Mariens für uns gekennzeichnet; denn Maria und Inkarnation gehören zusammen. Es war der große Joseph Görres, der in seinem "Athanasius" zeigte, wie sich die göttliche und menschliche Natur Christi im abendländischen Geschichtsverlauf widerspiegelten, wie das geistig-geistliche Prinzip, verkörpert im Papst, mit dem weltlichen Prinzip im Kaiser jene Dynamik der Geschichte verursachte, die eben nur in Europa geschehen konnte.
Hier entwickelte sich eine Zweieinheit, die zwar zu schwersten Belastungen führte, ohne die aber unsere Weltkultur nicht entstanden wäre. Wie sehr man hier Maria einbezog, zeigt ein Gemälde aus dem Jahr 1524 von Hans Holbein dem Jüngeren, genannt das "Gekrönte Marienbild des Bürgermeisters Meyer von Basel". Die Gottesmutter trägt hier die Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Maria ist imperatrix, Kaiserin des Reiches. Das Reich, das Herzstück Europas, und Maria gehören zusammen. Maria ist also die eigentliche Herrscherin. Darum wird ihr noch ein anderes Herrschaftssymbol beigegeben - der Reichsapfel. Maria trägt somit die Symbole der christlichen abendländischen Weltherrschaft.
Diese Beispiele, die noch vermehrt werden können, zeigen uns die enge Verflechtung des Marianischen mit dem Politischen im weitesten Sinne des Wortes. Es ist sicher kein Zufall, dass die Kaiserkrönung Otto I. 962, mit der wir uns, wie Heinrich Günther sagt, "am Nerv des deutschen Kaiserproblems befinden", am 2. Februar, am Fest Maria Lichtmess erfolgte. In diese Linie gehört auch die Tatsache, dass jenes deutsche Nationalheiligtum, in dem von 813 bis 1531 nicht weniger als 37 deutsche Kaiser und Könige gekrönt wurden, Unserer Lieben Frau geweiht ist. Karl der Große hatte dieses Marienmünster erbaut, das mit seiner Residenz zusammen den neuen Reichsmittelpunkt bilden sollte und das als Weltwunder der damaligen Zeit das Staunen der Zeitgenossen hervorrief.
Nach manchen Autoren hätte Karl sogar den Wunsch geäussert, gerade in diesem Marienheiligtum zum Kaiser gekrönt zu werden, um Krone und Zepter gleichsam aus den Händen Mariens zu empfangen. Der gleiche Gedanke soll die deutschen Kaiser und Könige bestimmt haben, als sie hier im Mariendom gekrönt wurden.
Von der Marienkirche zu Aachen blicken wir auf die Hagia Sophia in der Kaiserstadt des Ostens nach Konstantinopel. Hagia Sophia bedeutet heilige Weisheit. Zweifellos steht diese göttliche Weisheit in engster Verbindung mit derjenigen Person, die wir in der Litanei als Sitz oder Thron der Weisheit grüßen. Vielleicht wird in dieser Zusammenschau deutlich, wie sehr sich das christliche Herrschaftsideal unterscheidet von den weltlichen Macht-Imperien alter und neuer Zeit. Europa war gegründet auf die marianischen Eigenschaften der "pax" und der "justitia", des Friedens und der Gerechtigkeit, wie aus den liturgischen Gebeten des Frühmittelalters ersichtlich wird.
Auch Sophia, die Weisheit zählt zu diesen Eigenschaften. 0b man von Pax, vom Frieden, zur "Regina pacis", zur Königin des Friedens fand und von der "justitia", von der Gerechtigkeit zum "speculum justitiae", zu Maria, dem Spiegel der Gerechtigkeit, oder ob die Linie umgekehrt verlief, von Maria zu diesen Herrschertugenden, ist nicht so wichtig.
Jedenfalls wird in der von Papst Paul VI. am 6. Januar 1967 ins Leben gerufenen Bewegung "Justitia et Pax" etwas von jenem mittelalterlichen marianischen Ideal wieder lebendig. In diesem Zusammenhang müsste auch gesprochen werden, wie die großen Kaiserinnen und Königinnen, z. B. Mathilde, Adelheid und Kunigunde, aber auch Abtissinnen, wie vor allem Hildegard von Bingen, die "Kirchenlehrerin" und Prophetin, die christliche Sybille, aus marianischem Geist wirkte.
Was wir hier betrachtet haben, hat uns gezeigt, wie Maria am Aufbau und an der Struktur Europas beteiligt war. Nunmehr handelt es sich darum darzutun, wie Maria dieses Abendland behütet und beschützt hat. Als Ausgangspunkt wählen wir wieder ein Thema der Kunst, das uns mehr aussagt als viele wissenschaftliche Abhandlungen. Es ist das Motiv der Schutzmantelmadonna. Man kann sicher nicht behaupten, dass sich dieses Motiv auf den abendländischen Raum allein beschränkt. Es ist allgemein menschlich, sich in die Obhut der Mutter zu flüchten. Wir müssen jedoch sagen, die abendländische Geschichte liefert den Beweis, dass das Schutzmantelmotiv bei uns in Europa eine besondere Note erhält.
Im Ritus der Kaiserkrönung begegnen wir einer eindrucksvollen Zeremonie. Der Papst nimmt den Electus, den erwählten Kaiser, unter seinen Mantel und dieser küsst die Brust des Papstes.
Dieser Vorgang lässt uns die Schutzmantel-Madonnendarstellung tiefer erfassen. Wenn Maria auf diesen Bildern die ganze Christenheit, repräsentiert durch Papst und Kaiser, mit ihrem Mantel umhüllt, dann bedeutet dies nicht nur ganz allgemein ein Schutzverhältnis. Die Mantelumhüllung mit Brustkuss stellt vielmehr eine alte germanische Adoptionsform" dar, d. h. somit: wie bei der Kaiserkrönung die Umhüllung ein mystisches Vater- und Sohnverhältnis zwischen Kaiser und Papst begründet, so entsteht hier zwischen Maria und der durch den Papst und Kaiser symbolisierten Christenheit ein geheimnisvolles Mutter- und Kindverhältnis. Maria ist die Mutter Europas. Bei dem Nachweis, wo und wann Maria unseren Kontinent unter ihren Schutzmantel genommen hat, beschränken wir uns auf gewisse kriegerische Ereignisse.'' Es muss einer eigenen Studie vorbehalten bleiben, auf welch andere Gebiete sich der Einfluss Mariens erstreckte, bzw. in welchem Umfang die Marienverehrung das Werden unseres Erdteils begleitete. Gerade hier wäre noch viel zu tun. Aber immerhin ist durch die Beschränkung auf "Maria vom Sieg" der Rahmen abgesteckt, der auch die Friedensmission Mariens im europäischen Raum darlegt. Natürlich können wir uns hier unmöglich auf alle jene Ereignisse einlassen, die dem Eingreifen Mariens zugeschrieben wurden.
Mit dem Jahr 1830, in dem die Gottesmutter der hl. Katharina Labouré zu Paris erscheint und sie die so genannte "Wundertätige Medaille" prägen heisst, beginnt das marianische Jahrhundert, das nach La Salette und Lourdes seinen Höhepunkt in Fatima erreicht.
Wieder müssen wir fragen: Wo ist ein Erdteil, in dem Maria so oft erschien, wie gerade in Europa? Ist dieser Gedanke nicht auch einmal erwägenswert?
Was jedoch Fatima betrifft, so stehe ich nicht an zu behaupten, dass es sich hier um die Schicksalsfrage Europas handelt. Natürlich gilt die Voraussage Mariens bei ihrer dritten Erscheinung, wonach Russland seine Irrtümer in der Welt verbreiten, die Guten verfolgen, dem Heiligen Vater schweres Leid antun, Kriege entfesseln und mehrere Nationen vernichten wird, für alle Völker. Aber jedem Einsichtigen ist klar, dass in erster Linie davon Europa betroffen sein wird und die Jahre, die wir durchleben, beweisen es zur Genüge. Nicht umsonst erschien Maria im westlichsten Land Europas, um hier dem mächtigen Koloss im Osten gegenüberzutreten. Mit Fatima erreicht das Marianische seinen politischen Höhepunkt.
Mit diesem Höhepunkt Fatima möchten wir abschließen, nicht ohne unseres verstobenen Heiligen Vaters zu gedenken und zugleich die Frage zu beantworten: Was ergibt sich aus all dem für uns? Man vermisst nämlich bei den meisten Vorträgen und Abhandlungen über das christliche Europa etwas Wesentliches: Was müssen wir nun praktisch tun, damit Europa bleibt, das es christlich bleibt? Selbstverständlich gibt es darauf manche Antworten und nicht an letzter Stelle steht jene Antwort, die sich bei dem erschreckenden Geburtendefizit für das biologische Wachstum unseres Erdteils ergibt. Aber unsere Antwort hier muss nun schließlich von unserem Thema aus behandelt werden, und hier hat Papst Paul VI. in seinem Rundschreiben "Marialis cultus" vom 2. Februar 1974 zwei Hinweise gegeben. Er hat uns zwei marianische Gebetsübungen dringendst ans Herz gelegt, den täglichen "Engel des Herrn" und das Rosenkranzgebet. Bei näherem Zusehen entsprechen nun diese beiden Frömmigkeitsweisen sowohl dem, was wir im ersten Teil über die marianische Struktur Europas sagten, als auch dem, was im zweiten Teil die Schützerrolle Marias betrifft. Das wird unterstrichen durch zwei historische Bemerkungen.
In einem vor 20 Jahren erschienenen Predigtzyklus stehen die Worte: "Der Engel des Herrn" ein europäisches Gebet. In der Tat, Papst Calixtus III. hat am Fest der Apostelfürsten 1456 den "Engel des Herrn" als Gebetsruf für die gesamte christliche Welt angeordnet - in einer Stunde, wo wieder einmal das Geschick Europas auf des Messers Schneide stand und die türkische Heeresmacht nach dem Fall von Konstantinopel sich zum Vormarsch in das Herz Europas anschickte. Dass nun bei Belgrad 1456 das unüberwindlich scheinende Heer der Türken in die Flucht geschlagen wurde, galt als ein Wunder; und wer die Geschichte übernatürlich betrachtet, wird diesen Sieg dem Gebet des "Engel des Herrn" zuschreiben müssen. So ist der "Engel des Herrn" wirklich ein europäisches Gebet. Erinnert uns das erste "Ave Maria" an die Stunde der Verkündigung von Nazareth, so denken wir daran, dass diese Botschaft auch und besonders an Europa erging und dass dieser Erdteil, wie wir im zweiten Ave beten, sich demütig als die Magd des Herrn erkannt hat, so dass nun wirklich das WORT in Europa Fleisch werden und unter uns sein Zelt aufschlagen konnte bis zum heutigen Tag. Wieder stellen wir die Frage: Wenn der "Engel des Herrn" vor 500 Jahren vom Papst zu einem europäischen Hilferuf erklärt wurde, gilt das heute nicht mehr, wo ein noch schlimmerer Feind vor unseren Toren steht, ja bis in die Mitte Europas schon vorgedrungen ist?
So wie der "Engel des Herrn" seine Kraft und Wirkung glänzend unter Beweis gestellt hat, so erst recht die zweite von Papst Paul VI. genannte Gebetsweise, der Rosenkranz. Gewiss, ihn halten katholische Christen in allen Ländern und Erdteilen in den Händen, aber auch er ist ein europäisches Gebet, weil er Europa verschiedentlich gerettet hat. Wir verweisen auf die Seeschlacht von Lepanto 1571. Die Unterschrift unter einem Bild dieser Schlacht im Dogenpalast zu Venedig besteht zu recht: "Weder Macht und Waffen, noch Führer, sondern Maria vom Rosenkranz hat uns zum Sieg verholfen."
Wir sollten auch nicht übersehen, dass der Abzug der Russen aus Österreich 1955 mit gutem Grund den Gebeten des Rosenkranz-Sühnekreuzzugs zugeschrieben wird.
Reinhold Schneider hat in seinem Buch "Macht und Gnade" ein Kapitel überschrieben: "Das Gebet in der Geschichte", und er sagt hier: "Vielleicht sind es diese Kräfte und sie allein" - und hier meint er das Gebet - "die eine schwer zerrüttete Welt noch erhalten und ihr eine Hoffnung eingepflanzt haben, die kein Sturm entwurzeln kann." Damit kehren wir zurück zum Motto unseres Katholikentages: "Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben".
Freilich sollten wir auch noch die folgenden Worte des Propheten beachten, die eigentlich erst das enthalten, was wir tun müssen; denn Zukunft und Hoffnung werden uns nicht nachgeworfen: "Dann werdet ihr mich anrufen ... und werdet zu mir beten und ich werde euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden, wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet" (V. 12f); also beten und Gott mit ganzem Herzen suchen. Das sind die Bedingungen für Zukunft und Hoffnung.
Leo Kardinal Scheffczyk
In der Geschichte der Marienverehrung, zu deren Erschließung das MARIENLEXIKON manchen Beitrag geleistet hat, nimmt Fatima eine besondere Stellung ein. Es geschieht selten, dass ein Marienwallfahrtsort mit einer direkten und klar umschriebenen Glaubensbotschaft verbunden wird. In Fatima aber ist dies geschehen. Darum hat sich in Bezug auf diese Wallfahrt in weiten Teilen der Kirche auch die Bezeichnung und das Wort von der ,Botschaft von Fatima' eingebürgert und durchgesetzt.
Dabei beansprucht diese Botschaft eigentlich nichts Außergewöhnliches oder bislang Unerhörtes. Sie will nur einen Wesenszug des Glaubens beleuchten und bestärken: nämlich die Sühne für die Sünden, d. h. konkret die Mitverantwortung für das Heil der anderen und der ganzen Welt - und dies im Lichte der Urtat Jesu Christi am Kreuz und des Mittuns Marias.
Dies kommt schon in der ersten Erscheinung zum Ausdruck, in der die Kinder aufgefordert wurden, Opfer auf sich zu nehmen zur Sühne für die Sünden und zur Bekehrung der Sünder. Es erging an sie die Frage "Wollt ihr euch Gott schenken ... und jedes Leiden annehmen, das er euch schicken wird, als Sühne für die vielen Sünden ... und als Bitte für die Bekehrung der Sünder?"
Der Kern dieser Botschaft ist so tief im Glauben verankert, dass Johannes Paul II. anlässlich seines Fatima-Besuches von 1982 sagen konnte: "Der Weckruf von Fatima ist inhaltlich im Evangelium und in der ganzen Tradition so tief verwurzelt, dass sich die Kirche dieser Botschaft verpflichtet fühlt." Darum können sich der Wahrheit dieser Botschaft auch diejenigen nicht entziehen, die den Erscheinungen kritisch gegenüberstehen.
Es scheint nicht leicht zu sein, diese Wahrheit dem modernen Menschen nahe zu bringen und ihn davon zu überzeugen, dass er für den anderen einstehen muss, dass er für dessen Glück und Heil verantwortlich ist.
Das Leben des modernen Menschen schwingt zwischen zwei Extremen unruhig hin und her: zwischen dem Massendasein in der Öffentlichkeit und zwischen dem egoistischen Verschlossensein in der privaten Sphäre, wo er seinem eigenen Glück leben möchte oder, wie es heute sprichwörtlich heißt: wo er sich selbst verwirklichen möchte. In beiden Fällen fehlt ihm der Bezug zum anderen, die Erkenntnis, dass er erst am anderen zu sich selbst kommt, dass er dem anderen verpflichtet ist und ihm zum Segen oder zum Unheil werden kann.
Dabei ist dieses Bewusstsein, recht besehen, tief in den Grund jedes Menschen eingesenkt. Jeder weiß, dass er eigentlich nächst Gott für den anderen da ist, dass er im Notfall an seinen Platz treten muss, dass er zum Dienst am anderen bestellt ist und diesem Heil oder Unheil vermitteln kann. Das gilt für jede Ordnung und jeden Stand unter den Menschen: für den Bischof im Verhältnis zu seiner Kirche; flir den Priester im Verhältnis zu seiner Gemeinde; für die Eltern in bezug auf ihre Kinder.
Denn willkürlich und für sich allein leben kann niemand. Und oft sind gerade diejenigen, für die wir Verantwortung tragen und die uns die schwersten Lasten auferlegen, unsere besten Stützen im innerlichen Leben.
Freilich ist dieser Gedanke, diese Wahrheit vom Mitsein mit dem anderen und vom Verpflichtetsein für sein Wohlergehen und sein Heil im natürlichen Leben fast gänzlich verdunkelt und hier auch nur unzulänglich begründet. Das gelingt erst, wenn wir diesen Gedanken auf die Ebene des Glaubens stellen und ihn in das Licht des Christusglaubens erheben.
Dieser Glaube spricht uns nämlich vom Leib Christis, den wir bilden, in dem ER das Haupt und wir die Glieder sind. Die Wahrheit vom geheimnisvollen Leib Christi gibt uns erst wirklich Aufschluss darüber, warum wir in der Kraft des Hauptes Christi eine organische Verbundenheit von Gliedern bilden, zwischen denen ein Austausch stattfindet, so dass das eine für das andere da ist und sich Wirkungen von einem Glied auf das andere übertragen können.
Das deutet der hl. Paulus bei der Anwendung dieses Bildes an, wenn er sagt: "Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit" (1 Kor 12,26). Darum gilt auch: Wenn eines sich freut, freuen sich auch die anderen.
Der Apostel konkretisiert das noch an einer Stelle im Kolosserbrief, wo es heißt: "Ich freue mich der Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben, was an dem Leiden Christi noch fehlt" (Kol 1,24). In dem geistig-übernatürlichen Organismus gibt es tatsächlich einen solchen Austausch, ein Einstehen des einen für den anderen, ein Fruchtbarwerden des einzelnen für die vielen, ein schicksalhaftes Teilnehmen des ganzen Leibes am Gewinn und Verlust des einzelnen. Deshalb bedeutet jede Sünde einen Einbruch in das kraftvolle Leben des Leibes, und jede Guttat einen Gewinn an Gnade für jedes Glied des Organismus.
Das ist gleichsam eine himmlische Rechenkunst, aber wahr und zuverlässig, weil sie von Christus begründet und von Maria als der Erst- und Vollerlösten nachvollzogen wurde. Christus hat am Kreuz die Sünden aller auf sich genommen und das Heil für alle erworben. Maria aber ist als Erste in die Nachfolge Christi eingetreten. Sie hat an der Spitze der Menschheit ihr Jawort an Stelle der ganzen Menschheit gegeben; in der Kraft dieses Jawortes hat sie uns das Heil in Person geschenkt. Als höchstes Glied der Kirche, als Mutter der Kirche, kann sie nun die Gnade des Heils auch weiterleiten und allen Gliedern zuwenden.
Aber wo ein solcher Strom einmal in Bewegung gesetzt wurde, kann er beim einzelnen nicht Halt machen und zum Stillstand kommen. Diese einmal begründete Dynamik der Gnade muss auch unter den Gliedern weitergehen. Sie müssen in gewisser Weise auch einander Mittler der Gnade werden, das Heil der anderen befördern und das Unheil abwenden: beides durch ein heiligmäßiges Leben. Bemerkenswerterweise beginnt deshalb das Wort an die Kinder von Fatima mit der Frage: "Wollt ihr euch Gott schenken?" Die Hingabe an Gott, das heiligmäßige Leben sind die Grundkraft für die Hingabe an den anderen und das Leben für ihn.
Das ist die Wahrheit von der Heilsverantwortung und der Heilszuwendung für die anderen, an die uns Fatima eindringlich erinnert. Sie gilt besonders in bezug auf die schwachen, kranken und gefährdeten Glieder der Kirche und der Menschheit.
Hier nimmt diese Wahrheit sogar eine erschreckende Größe an. So konnte Pius XII. einmal sagen: "Es ist ein wahrhaft erregendes Geheimnis, das man niemals genug betrachten kann: dass nämlich das Heil vieler abhängig ist von den Gebeten und freiwilligen Bußübungen der Glieder des geheimnisvollen Leibes." Es ist darin nichts Geringeres ausgesprochen als die Berufung des Christen zur Teilnahme am Sühnewerk Jesu Christi, zur Mitarbeit an der Erlösung.
Manche nehmen Anstoß daran, wenn man Maria als Mitwirkerin und Mitursache der Erlösung Christi bezeichnet. Aber im Grunde sollen wir das alle sein.
Wir alle sollen mit der empfangenen Gnade Christi witwirken, mit dieser Kraft die Kraft des anderen anstoßen und anregen, dass er sich der Gnade öffne.
Das könnte manchem zu hochgegriffen und anspruchsvoll erscheinen. Aber nach dem hl. Paulus sind alle Christen zu "Mitarbeitern Gottes" berufen (1 Kor 3,9). In diesem Sinne sollte jeder Christ eine "anima mariana", Mittler des Heils wie Maria sein.
Wem diese Wahrheit aber zu anspruchsvoll erscheint, der sollte daran denken, dass diese höchste Weisheit Christi uns in Fatima aus Kindermund mitgeteilt wurde. Die Botschaft, durch Kindermund vermittelt, ist ein Beweis dafür, dass das Schwierigste zugleich auch ganz einfach, das Erhabenste ganz schlicht gesagt und getan werden kann. Wir sollten uns deshalb vor der Berufung, dem Heil der anderen zu dienen und stellvertretend für sie einzustehen, nicht fürchten. Wir sollten sie als Möglichkeit ergreifen, zum Vollalter Christi heranzuwachsen und ihm ähnlich zu werden im Sühnen und Opfern für die unerlöste Welt. Durch Christi Werk sind wir dazu berufen, durch das Mitwirken Marias dazu angespornt und befähigt.
Anton Ziegenaus
Selig- und Heiligsprechungen von Kindern ist ein Schritt, den anscheinend erst das
20. Jahrhundert getan hat. Sicher, schon seit dem Mittelalter gab es die Legende vom
hl. Pankratius, der als 14-jähriger das Martyrium erlitten hat. Aber geschichtlich verbürgte
Lebensläufe von heiligen Kindern sind selten; noch seltener sah sich die Kirche
vor die Bitte gestellt (die in der Regel von unten, von der Verehrung durch das gläubige
Volk angeregt wird), das Leben heiliger Kinder den Gläubigen als vorbildlich und
nachahmenswert zu empfehlen.
Erst Pius XII. hat Kinder heilig gesprochen, etwa Maria Goretti (1890-1902), die als Halbwaise sich der 4 jüngeren Geschwister annahm, damit die Mutter für die Familie auswärts arbeiten konnte, und sich entschieden den Wünschen eines jungen Mannes widersetzte, der ihre Reinheit antasten wollte, und in ihrer tödlichen Verwundung dem Mörder verziehen hat; er hat ihren liebevollen Blick nie mehr vergessen. Derselbe Papst erkannte auch die Heiligkeit Don Savios (1842-57) aus der Schule Don Boscos an.
Johannes Paul II. hat Laura, ,,das Mädchen aus den Anden", (1891-1904) selig gesprochen, das einer Verführung widerstanden und Jesus das Leben für die Bekehrung ihrer Mutter angeboten hat. Ebenso sind die Seherkinder von Fatima zu nennen, Francisco Marto (2O.06.1908 - 04.04.1919) und Jacinta Marto (05.03.1910 - 20.02.192O). Die beiden Geschwister waren unter den Genannten die Jüngsten, knapp unter elf bzw. zehn Jahren.
Insofern Heiligkeit ein Geschenk der Gnade ist, verwundert die Heiligkeit von Kindern nicht, jedoch überrascht bei ihnen der Heroismus, der für eine Kanonisierung gefordert wird.
Jacintas Leben, das hier skizziert werden soll, wurde ausführlich in Lucias ,,Erinnerungen/Memorias" geschildert. Schon der erste Abschnitt bietet ein Charakterbild Jacintas. Jedoch auch der vierte Abschnitt bringt noch ein eigenes Kapitel über den "Ruf der Heiligkeit Jacintas", abgesehen von den verschiedenen Anmerkungen in den anderen Erzählungen. Zu diesen, vielen schon bekannten Berichten hinzu besitzen wir noch andere Texte, die nicht zusammenhängend, sondern beiläufig, auch nicht in der gefälligen Diktion Lucias, sondern mehr sachlich unsere Kenntnisse über Jacinta ergänzen. Gemeint ist die Documentação Crítica de Fátima, die bisher vier Bände der vom Santuário von Fatima herausgegebenen Dokumentation der Ereignisse in Fatima. Sie enthält Protokolle, Niederschriften von Verhören, Tagebücher (schon einige Tage nach der ersten Erscheinung am 13. Mai 1917!), Briefe privater oder amtlicher Art, Zeitungsmeldungen. Befürworter und Gegner der Echtheit kommen zu Wort. Während in den "Erinnerungen" Lucias Sicht, gleichsam eine Innenschau, zum Ausdruck kommt, bietet die Dokumentation eine Außenschau.
Nach Lucias Schilderung war Jacinta zimperlich und empfindlich und schnell beleidigt. Doch zeigte sie ihr gutes Herz in der Freigebigkeit gegenüber armen Kindern. Andere Kinder empfanden offensichtlich eine gewisse Scheu, auf sie zuzugehen, obwohl sie dann doch eine zutrauliche Art hatte. Sie hatte Freude am Spielen und Tanzen. In ihrer Familie fand sie Geborgenheit, was sich auch daran zeigte, dass die Eltern ihren Berichten von der Erscheinung glaubten, während Lucia von der Mutter als Lügnerin betrachtet und ausgeschimpft wurde. In den Tagen der Gefangenschaft in Ouren hatte die Siebenjährige großes Heimweh.
Dr. Manuel Nunes Formigão, der spätere Leiter der diözesanen Untersuchungskommission, bescheinigte den Seherkindern ein gutes Gedächtnis, schnelle Aufnahmefähigkeit und ein klares Empfinden für das, was zu tun ist. Trotz vieler kniffliger Fangfragen gelang es nicht, Lucia und Jacinta gegeneinander auszuspielen oder in Selbstwidersprüche zu verwickeln. Wer bedenkt, dass keines der Seherkinder die Schule besucht hat, kann ihnen eine erstaunliche Klugheit nicht absprechen. Das zeigt sich besonders daran, wie sie die Geheimnisse hüteten und auf listige Fragen nicht hereinfielen.
Die Seherkinder entstammten religiösen Familien. Sie beteten auch untertags, als sie ihre Schafe weideten, den Rosenkranz, aber mehr routinemäßig. So bekannte Lucia, dass sie oft nicht das ganze Ave Maria beteten, sondern nur den Anfang, um schneller fertig zu werden. Durch die Erscheinungen erhielt ihr ganzes Leben eine bewusste Durchformung. 0b sie dann den Rosenkranz auch verstanden haben, sei dahingestellt, doch beteten sie nicht mehr gewohnheitsmäßig, sondern aus Gehorsam und Liebe gegenüber dem Auftrag der Erscheinung und gern. Beten gehörte in den Rahmen, Sühne zu leisten, den Heiland zu trösten und Seelen zu retten. Schon am ersten Erscheinungstag, den 13. Mai 1917, wurden ihnen der Rosenkranz um den Frieden aufgetragen und versprachen sie, alle Leiden zu ertragen, die Gott ihnen schicken wird, "zur Sühne für alle Sünden, durch die er beleidigt wird und als Bitte um die Bekehrung der Sünder".
Jacintas Kraft zum Opfer war erstaunlich: "Laßt uns unser Mittagsbrot jenen Armen (= bettelnde Kinder) geben für die Bekehrung der Sünder. ... Sobald wir sie sahen, lief Jacinta hin und übergab ihnen unser ganzes Mittagsbrot für den Tag, und zwar mit solcher Freude, als ob es ihr nicht fehlen würde. Unsere Nahrung bestand dann an diesen Tagen aus Tannenzapfen, Wurzeln, von Glockenblumen ..., Brombeeren, Pilzen ... Jacinta schien unersättlich im Opferbringen zu sein".
Die Opfer und Leiden der Krankheit waren sehr hart, wurden aber gemildert und innerlich erträglich einmal durch die schon bei der ersten Erscheinung geweckte Hoffnung auf den Himmel, der Jacinta für "bald" angekündigt wurde, dann durch die Liebe zum gekreuzigten Heiland und zu den Sündern, damit sie gerettet werden. Da Jacinta "eine schwache Konstitution hatte", muss dieser Opfergeist noch mehr verwundern. Entscheidend war die Haltung der Liebe: "Seitdem unsere Liebe Frau uns gelehrt hatte, Jesus unsere Opfer darzubringen, fragte Jacinta immer, wenn wir vereinbart hatten, eines zu bringen, oder wenn wir irgendeine Prüfung erdulden mussten: ,Hast du Jesus schon gesagt, dass es aus Liebe zu ihm ist?' - ,Wenn ich mit nein antwortete' ... - ,Dann sage es ihm' - und sie faltete die kleinen Hände, erhob die Augen zum Himmel und sagte: ,0 Jesus, es ist aus Liebe zu Dir und für die Bekehrung der Sünder'." Am meisten wurde Jacinta zur Opferbereitschaft durch die Höllenvision angeregt. "Die Vision von der Hölle hatte Jacinta dermaßen mit Entsetzen erfüllt, dass alle Bußübungen und Abtötungen ihr wie nichts erschienen, wenn sie nur einige Seelen vor der Hölle bewahren konnte".
Nicht wenige werden an dieser Vision Ärgernis nehmen und deshalb vielleicht sogar die Übernatürlichkeit der Erscheinung von Fatima ablehnen. Vor allem stehen jene der Vision verständnislos gegenüber, die die ewige Verdammnis ablehnen, da sie diese mit Gott, der doch die Liebe ist, nicht zusammen denken können. Wenn es die Hölle nicht gibt, dürfe man mit solchen schrecklichen Drohungen auch nicht kommen. Jedoch Lucia kommt mehrmals auf diese Vision zu sprechen und auch das Neue Testament verschweigt diese reale Möglichkeit nicht.
Es lässt sich nicht leugnen. Die strengen Bußübungen der Seherkinder, vor allem Jacintas, haben ihren eigentlichen und tiefsten Grund in dem Willen, Menschen vor der Hölle zu bewahren. Nicht Freude an der Strafe der Übeltäter, nicht Rachsucht ist das Motiv, sondern Mitleid und Liebe: Oft setzte sich Jacinta auf den Boden oder auf einen Stein und meinte nachdenklich: "Die Hölle! Die Hölle! Wie leid tun mir die Seelen, die in die Hölle kommen". Sie betete dann das Fatima-Stoßgebet: "O mein Jesus ...". Das Erlebnis brachte über die Kinder nicht eine Angst - Angst lähmt -, sondern einen Ernst und vor allem Liebe, die sich rührend für die Sünder einsetzt. Die Liebe, die sich für die Rettung der Verlorenen mit aller Kraft einsetzt, ist auf jeden Fall mehr als eine Behäbigkeit, die meint, sich nicht einsetzen zu müssen (da es ja keine ewig Verlorenen gibt!).
Marienerscheinungen bringen keine inhaltlich neuen Offenbarungen. Ihre Botschaften haben prophetischen Charakter, d. h. sie wollen Wahrheiten wieder ins Bewusstsein rufen, die in der Bibel klar bezeugt sind, aber gegenwärtig in Vergessenheit zu geraten scheinen. Solche Wahrheiten sind die Notwendigkeit der Buße und Umkehr, der stellvertretenden Sühne und des Entscheidungsernstes der biblischen Verkündigung. Jacinta hat wohl am meisten von den Seherkindern in Fatima diesen Entscheidungsernst gesehen und darauf mit der Liebe stellvertretenden Sühnens, Betens und Leidens geantwortet. Wenn von Gott erwartet wird, dass er in seiner Liebe bedingungslos jeden ohne Ausnahme in seine Nähe nimmt, wären das Opfer, Leiden und das Beten der Heiligen überflüssig und wertlos, letztlich und vor allem auch das Sterben Christi für die Sünder. Die Botschaft von Fatima entspricht ganz dem Geist des Evangeliums. Maria sagt: "Betet, betet viel und bringt Opfer für die Sünder; denn viele Menschen kommen in die Hölle, weil sich niemand für sie opfert und für sie betet".
Im Gefängnis von Ourem litt Jacinta am stärksten an der Trennung von den Eltern. Sie versuchte aber immer wieder, die Tränen für die Bekehrung der Sünder aufzuopfern. Die Behörden versuchten von den Sehern die Geheimnisse zu erfahren. Die Vernehmungsmethoden waren dabei grausam: Man drohte den Kindern, sie demnächst zu "braten". Der Kreisvorsteher suchte die Preisgabe der Geheimnisse mit Versprechungen und schließlich mit Drohungen zu erreichen. Als er nichts erreichte, sagte er, "er würde doch noch alles herausbekommen, auch wenn es mich (= Lucia) das Leben kosten sollte". Noch deutlicher wird die Grausamkeit in DOC 8 des 2. Bd. geschildert: Der Kessel mit siedendem Öl werde schon hergerichtet. Zu Francisco sagte man, Jacinta werde bereits verbrannt und ihm drohe das gleiche Schicksal, wenn er das Geheimnis nicht preisgäbe. Dieselben Drohungen wurden gegen Lucia angewandt.
Das Verhalten der Kinder war erstaunlich: sie behielten nicht nur die Geheimnisse für sich, sondern hatten keine Angst. Das sagte Lucia von sich. Und Francisco sagte während des Verhörs Jacintas: "Wenn sie uns wirklich umbringen, sind wir bald im Himmel." Er betet, dass Jacinta keine Angst bekommt. Angesichts der Drohungen kann diese Ruhe nur mit einer besonderen Nähe göttlicher Gnade begründet werden. Sie waren in eine übernatürliche Atmosphäre eingetaucht. Anders kann die Stärke der siebenjährigen Jacinta nicht erklärt werden.
Schon anlässlich der Engelserscheinung schreibt Lucia über die intensive Atmosphäre: "Die Atmosphäre des Übernatürlichen, die uns umgab, war so intensiv, dass wir ziemlich lange kaum unseres eigenen Daseins inne wurden; wir blieben in der Haltung, in welcher der Engel uns zurückgelassen hatte, und wiederholten ständig dasselbe Gebet. Wir fühlten die Gegenwart Gottes so gewaltig und innerlich, dass wir nicht einmal untereinander zu sprechen wagten. Noch am nächsten Tag war unser Geist in diese Atmosphäre gehüllt, die nur sehr langsam verschwand ... Sie war so innerlich, dass es nicht leicht war, darüber auch nur ein Wort zu sagen!" Die Umhüllung "durch die Gegenwart des Übernatürlichen" ist die Atmosphäre, durch die sich eine Erscheinung der Gottesmutter ankündigt.
Wenn die siebenjährige Jacinta, in Ourem eingesperrt, aus Heimweh nach den Eltern weinte, ist das natürlich und nichts Ungewöhnliches. Wenn gerade dieses Mädchen angesichts harter Drohungen keine Angst gezeigt hat, ist das ein Zeichen, wie stark ihre Natur von der Gnade Gottes umfangen war.
Die Dokumentation (Bd III 2) bringt viele Einzelheiten über Jacintas Krankheit und Tod, wie Briefe von Ärzten, von Dr. Formigão, von den Eltern und von Schw. Maria da Purificação, die in Lissabon Jacinta versorgt hat, und Dokumente aus dem Krankenhausregister.
Ende Oktober 1918 erkrankten Francisco und Jacinta. Sie verheimlichte ihre Schmerzen der Mutter und trug sie in tapferem Opfermut. Auch litt sie schwer unter dem Tod des Bruders und dem Abschied von Lucia, als sie ins Krankenhaus nach Lissabon gehen sollte. Die Mutter wollte Jacinta offensichtlich nicht weggeben. Dann aber begleitete sie das Kind ins Krankenhaus und blieb einige Zeit bei ihm. In einem Brief bittet sie ihr Mann heimzukommen, denn auch zuhause sind Kranke. Man sieht die Sorge der Eltern um ihr Kind, das dann doch allein zurückgelassen werden musste. Die Not der Eltern geht zu Herzen.
Jacinta sucht Leid und Schmerz in ihrem Opfergeist anzunehmen. Sie wusste, warum und wofür sie litt. Der Himmel, der das Leid von ihr erwartete, stand ihr bei. Nachdenklich stimmen folgende Zeilen Lucias: "Eines Tages ließ sie (= Jacinta) mich (= Lucia) rufen, ich sollte schnell zu ihr kommen. Ich lief hin: Unsere Liebe Frau kam uns (= Francisco und Jacinta) besuchen und sagte, dass sie Francisco sehr bald in den Himmel holen werde; und mich fragte sie, ob ich noch mehr Sünder bekehren möchte. Ich sagte ihr ja. Sie kündigte mir an, ich würde in ein Krankenhaus kommen und dort viel leiden. Ich würde für die Bekehrung der Sünder, als Sühne für die Sünden gegen das Unbefleckte Herz und aus Liebe zu Jesus leiden. Ich fragte, ob du (= Lucia) mit mir gehen würdest. Sie verneinte. Das kostete mich am meisten ... Vielleicht ist das Krankenhaus ein sehr dunkles Haus, wo man nichts sieht, und ich bin dort allein, um zu leiden. Aber es macht nichts. Ich leide aus Liebe zu unserem Herrn und um dem Unbefleckten Herzen Mariens Sühne zu leisten, für die Bekehrung der Sünder und für den Heiligen Vater.
Als der Augenblick kam, wo ihr Brüderchen zum Himmel gehen sollte, gab sie ihre Empfehlungen (er starb am 4. April 1919): "Grüße unseren Herrn und Unsere Liebe Frau von mir und sage, dass ich alles erdulde, wenn Sie es wünschen, um die Sünder zu bekehren und dem Unbefleckten Herzen Mariens Sühne zu leisten."
Eine Operation, die zunächst gut verlaufen war, aber letztlich nicht zum gewünschten Erfolg führte, hielt Jacinta für nutzlos, weil die Gottesmutter ihr gesagt habe, dass sie sterben werde. Die Operation wurde aber trotzdem durchgeführt. Die Freude auf den Himmel half ihr, alle Schmerzen zu überwinden. Der Himmel bewahrte Jacinta nicht vor Schmerzen, aber in den Schmerzen.
Jacinta starb am 2O. Februar 1920 um 20.30 Uhr an einer eitrigen Rippenfellentzündung (Pleurisia purulenta). Zuvor hat sie noch gebeichtet, aber nicht mehr die Kommunion empfangen. Die Eltern haben den Tod ihrer Tochter in gläubiger Ergebenheit angenommen. Der Tod des Seherkindes wurde in der portugiesischen Öffentlichkeit weithin wahrgenommen.
Das viele Leid, das über Jacinta in ihrem kurzen Leben gekommen ist, mag verwundern. Nicht wenige werden sich an dieser Art Gottes zu erlösen - immer durch Leid! - stoßen. Um einen inneren Zugang zu Jacintas Leben, das ein Leiden in Liebe war, zu finden, ist es notwendig, die Sünde als die eigentliche Not des Menschen zu entdecken. Wenn Sünde ein Fremdwort geworden ist, wer sie nur als Chance Gottes versteht, um verzeihen zu können, wird über die von der Erscheinung in Fatima angestoßene Bewegung nur den Kopf schütteln.
Auch das Leiden wird von vielen nur als zu überwindendes und zu beseitigendes Übel gesehen. Die Natur wehrt sich dagegen, aber muss es deswegen in jeder Hinsicht ein Übel sein? Der aufgeklärte Mensch kann mit "Sünde" nichts anfangen, ebenso wenig mit "Leid". Deshalb will man einem Leidenden, wenn keine Hoffnung auf Heilung mehr besteht, dadurch helfen, dass man ihn tötet. Dass der Leidende ein Segensbringer sein kann, wenn er in der Haltung Christi seine Not annimmt, wurde vergessen. In dieser Haltung wird das Kreuz erträglich, nicht aufgrund eigener Stärke des Menschen, sondern weil er einen Beistand erfährt.
Jacinta, das schwache Kind mit sieben bis zehn Jahren, hat in heroischer Weise gelitten und Leiden in Liebe angenommen, und daraus Segen und Rettung gemacht und an die Kraft in der Schwäche verwiesen. Sie hat das Prophetische der Botschaft von Fatima vorgelebt.
Weihbischof em. Vinzenz Guggenberger
Am 25. Dezember 2005, am Fest der Geburt Christi also, ist die erste Enzyklika von Papst Benedikt XVI. unterzeichnet worden. Dieses Datum ist nicht zufällig gewählt, denn in der Menschwerdung und Geburt des Sohnes Gottes ist die Liebe Gottes, die das Thema dieser Enzyklika bildet, besonders deutlich geworden. Von den 42 Nummern dieses Rundschreibens sind die beiden letzten der allerseligsten Jungfrau Maria gewidmet. Diese drei Seiten von den insgesamt 75 Seiten sind ein begeisterter und begeisternder Ausdruck der Verehrung und Liebe des Papstes gegenüber der allerseiigsten Jungfrau Maria, der Mutter Gottes und unserer Mutter.
Sie sind eine Einladung an die ganze Kirche und an uns alle, dass wir die Liebe Gottes immer besser erkennen und beantworten, wie dies Maria getan hat, damit auch in unserem Leben wie im Leben Mariens die Liebe Gottes offenbar wird. Ich will deshalb einige Aussagen der Enzyklika aufgreifen, damit wir uns die tief empfundenen Worte des Hl. Vaters besser zu eigen machen können.
Papst Benedikt schließt seine Enzyklika mit einem persönlichen Gebet zu Maria. Dieses setzt sich aus einer rühmenden Anrede und einer demütigen Bitte zusammen. Die rühmende Anrede lautet: "Heilige Maria, Mutter Gottes, du hast der Welt das wahre Licht geschenkt, Jesus, deinen Sohn - Gottes Sohn. Du hast dich ganz dem Ruf Gottes überantwortet und bist so zum Quell der Güte geworden, die aus ihm strömt."
Dies ist nicht bloß eine Rühmung Mariens, sondern auch eine Rühmung Gottes, denn was Maria der Welt geschenkt hat, hat sie selbst von Gott als Geschenk empfangen: ihren Sohn, den Sohn Gottes, das Licht der Welt. Und sie hat dieses Geschenk nicht bloß für sich persönlich erhalten, sondern für die ganze Kirche und die ganze Menschheit.
Auf das Wort der Rühmung folgt die Bitte an Maria: "Zeige uns Jesus. Führe uns zu ihm. Lehre uns ihn kennen und lieben!"
Wie Maria ihren Sohn Jesus gekannt und geliebt hat, so sollen auch wir ihn erkennen und lieben. Maria kann dazu am besten helfen, weil sie ihn am besten gekannt und geliebt hat und weil es ihr eigenes Anliegen ist, dass auch wir ihn kennen und lieben lernen. Bei dieser Bitte an Maria denken wir also nicht bloß an uns selber, sondern an die ganze Kirche, an alle Mitchristen und an alle Mitmenschen: "Lehre uns ihn kennen und ihn lieben, damit auch wir selbst wahrhaft Liebende und Quelle lebendigen Wassers werden."
Der Papst sieht Maria nicht für sich allein, sondern in der Gemeinschaft aller Heiligen. Alle Heiligen sind gekennzeichnet und ausgezeichnet durch ihre Liebe, durch ihre Liebe zu Gott und zu den Menschen, so dass in ihnen die Liebe Gottes gegenwärtig und erfahrbar wird.
Ausdrücklich und namentlich nennt der Heilige Vater den hl. Martin von Tours, den hl. Abt Antonius den Einsiedler, den hl. Franz von Assisi, Ignatius von Loyola, Johannes vom Kreuz, Kamillus von Lellis, Vinzenz von Paul, Louise de Marillac, Giuseppe B. Cottolengo, Johannes Bosco, Luigi Orione und Theresa von Kalkutta. Sie alle haben Ordensgemeinschaften gegründet und leben und wirken in ihren Mitgliedern fort. Sie sind "Lichtträger der Geschichte, weil sie Menschen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sind."
Maria ist ihre Königin und ihr Vorbild, insbesondere in der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Eine Aussage, die für alle Heiligen gilt, gilt in besonderer Weise für Maria: sie sind Betende am Throne Gottes, anbetend, dankend, bittend. Sie setzen im Himmel das Werk ihrer Liebe fort, das sie auf Erden begonnen haben. In den Heiligen wird es sichtbar: ,,Wer zu Gott geht, geht nicht weg von den Menschen, sondern wird ihnen erst wirklich nahe."
Bei keinem anderen Menschen sehen wir das so deutlich wie bei Maria. Das Wort des Gekreuzigten an Johannes und an alle Jünger "siehe da, deine Mutter" (Joh 19,27) wird durch alle Generationen wirksam und erweist sich dadurch als wahr: Maria ist in Gott zur Mutter aller Gläubigen geworden. Zu ihrer mütterlichen Güte wie zu ihrer jungfräulichen Reinheit und Schönheit nehmen die Menschen aller Zeiten und aller Erdteile in ihren Nöten und Hoffnungen, in ihren Freuden und Leiden ihre Zuflucht; und immer erfahren sie das Geschenk ihrer Güte.
"Die Zeugnisse der Dankbarkeit, die ihr in allen Kontinenten und Kulturen erbracht werden, sind die Anerkennung jener reinen Liebe, die nicht sich selber sucht, sondern nur einfach das Gute will."
Die Verehrung der Gläubigen gegenüber Maria zeigt zugleich auch das untrügliche Gespür dafür, wie solche Liebe möglich ist: duch die innerste Einigung mit Gott, durch das Durchdrungensein von seiner Liebe, die Quelle der Liebe ist und auch uns zur Quelle der Liebe werden lässt.
Papst Benedikt XVI. leitet das Gebet an Maria mit einem kurzen Weihegebet ein: "Ihr vertrauen wir die Kirche, ihre Sendung im Dienst der Liebe an." Das ist zugleich eine wichtige Aussage über das Wesen der Kirche: ihr Dienst ist Dienst der Liebe. Wir sollen die Liebe, die wir empfangen haben, bezeugen und weitergeben, wie dies Maria getan hat. Wir sollen uns der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria anvertrauen, damit wir wie sie und mit ihrer Hiife die Liebe Gottes erkennen und bewahren, bezeugen und weitergeben können. Amen.